Venezuela: Wie sind wir in diese politische Sackgasse geraten?

In Venezuela haben sich die Ereignisse nach der Präsidentschaftswahl am 28. Juli überschlagen. Am Montagmorgen ertönte der Lärm von Töpfen und Pfannen der Cacerolazos gegen die Verkündung des Wahlsiegs von Nicolás Maduro. Diese Proteste begannen in der Hauptstadt Caracas in den Arbeiter- und Armenvierteln Petare, Catia und 23 de Enero, den traditionellen Hochburgen der Revolution. Von Jorge Martín, 29. Juli (gekürzt).

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Die Wahl war ein Duell zwischen Nicolás Maduro und María Corina Machado. Der Name des offiziellen Kandidaten der Opposition spielt keine Rolle, Machado war die tatsächliche Oppositionskandidatin, die die Fäden zog.

Wichtig zu verstehen ist, dass Maduros Regierung nichts mit jener von Hugo Chávez (Präsident von 1999– 2013) gemein hat. Vielmehr steht Maduro für das genaue Gegenteil.

Chávez stand an der Spitze der Bolivarischen Revolution mit allem was zu ihr gehörte: Landbesetzungen, Gründung von Kommunen, Arbeiterkontrolle, Verstaatlichungen, die Bekämpfung des Imperialismus, Diskussionen über den Sozialismus, usw.

Maduro hingegen hat den gegenteiligen Prozess angeführt, die bürgerliche Restauration der nationalen Oligarchie: die Rückgabe des Landes an die Grundbesitzer, Privatisierungen, Zerschlagung der Arbeiterkontrolle, Eingriffe in Lohnverhandlungen, die Inhaftierung von Aktivisten der Arbeiterklasse usw.

Maduros Regierung stützt sich dabei auf bonapartistische Methoden, auch um die linke Opposition auszuschalten. Sie haben der Tupamaros-Bewegung, der UPV, der PPT und der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) die Kontrolle über ihre Wahllisten entzogen. Sie gingen sogar so weit, eine fingierte Partei aus bezahlten Beamten zu gründen, um der PCV den Namen abspenstig zu machen. Als Maduros Partei die Wahlen im Bundesstaat Barinas verlor, annullierte sie diese, disqualifizierte die Kandidaten der Opposition (ebenso wie jenen der PCV) und ließ die Wahlen wiederholen, nur um erneut zu verlieren.

María Corina Machado repräsentiert den lakaienhaften rechten Flügel der verkommenen imperialistischen Oligarchie. Sie hat 26 Jahre damit verbracht, Putschversuche und Terroranschläge zu schmieden, zur ausländischen Invasion und gewalttätigen Guarimbas (Aufständen) aufzurufen, imperialistische Sanktionen zu bejubeln, und ganz allgemein einen tiefen Hass gegen die Arbeiterklasse, die Armen und die Bauern zu schüren.

Die Genossen von Lucha de Clases, der venezolanischen Sektion der RKI, erklärten, dass es für die Arbeiterklasse bei dieser Wahl keine Option gibt. Es war „eine Wahl zwischen Tod durch Ersticken und Tod durch Enthauptung“.

Zehn Jahre schwere Wirtschaftskrise als Folge des kombinierten Chaos einer unvollendeten Revolution, imperialistischer Sanktionen und einer verrückten Geld- und Preispolitik, gefolgt von einem harten Sparkurs auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung, haben Maduros Unterstützerbasis völlig erodieren lassen. Die Unterstützer, die er von Chávez geerbt hat, sind in einem solchen Ausmaß von Maduro abgestoßen, dass viele die Möglichkeit sahen, der Regierung bei den Wahlen eine schwere Niederlage zuzufügen.

Daher begannen schon am Samstag Mobilisierungen in beispiellosem Ausmaß zu den Wahllokalen. Der Wahltag selbst verlief ohne größere Zwischenfälle, wobei einige Wahllokale mit stundenlanger Verspätung aufsperrten. Am Ende des Tages begann sich die Situation zuzuspitzen. Anhänger der Opposition drängten zu den Wahllokalen, um die öffentliche Bekanntgabe der Auszählungen abzuwarten.

Als das Ergebnis der einzelnen Wahllokale bekannt gegeben wurde, wurden Fotos der Auszählungsbögen (actas) in den sozialen Medien gepostet. Auf allen war der Oppositionskandidat als Sieger zu sehen. Ich habe nur von einem einzigen Auszählungsbogen gehört – allerdings kein Foto davon gesehen – auf dem Maduro als Sieger aufscheint.

Natürlich, im ganzen Land gibt es etwa 30.000 Auszählungsbögen. Ein paar Dutzend, die in den sozialen Medien kursieren, lassen nicht auf das Endergebnis schließen. Aber es war bezeichnend, dass viele von ihnen aus traditionell chavistischen Hochburgen stammten. Im revolutionären Viertel 23 de Enero in Caracas beispielsweise, in dem sich auch Chávez’ eigenes Wahllokal befand, konnte die Opposition die Wahl für sich entscheiden.

Dann wurde die Übermittlung der Ergebnisse aus den Wahllokalen an den nationalen Wahlrat (CNE) unterbrochen. Die Regierung behauptet, dies sei die Folge eines Cyberangriffs gewesen. Die Wahlbeobachter der Opposition prangerten an, dass sie entgegen den Vorschriften keinen Zugang zum Auszählungsraum des CNE erhielten.

Die Liste an Unstimmigkeiten geht noch weiter: Gruppen bewaffneter Zivilisten schüchterten diejenigen, die in den Wahllokalen auf die Bekanntgabe der Ergebnisse warteten, ein. In einigen Fällen gaben sie Schüsse ab, um die Menge zu vertreiben, dabei wurde eine Person getötet.

Gegen 23 Uhr (bei einem Auszahlungsstand von 80%) gab der CNE schließlich ein erstes Ergebnis bekannt: 51% für Maduro gegen 44% für Edmundo Gonzalez (Opposition) und 4,6% für die anderen Kandidaten. Die Wahlbeteiligung lag bei 59%. „Der Trend ist unumkehrbar“, verkündete der CNE.

Das offizielle Ergebnis stimmte nicht mit den in den sozialen Medien veröffentlichten Ergebnissen überein. Außerdem verkündete der CNE am folgenden Tag den Sieg Maduros, ohne jemals das vollständige Ergebnis mit einem Auszählungsgrad von 100% zu veröffentlichen, geschweige denn die Aufschlüsselung nach Bundesstaat, Gemeinde und Wahllokal offenzulegen. Die offiziellen Ergebnisse können daher nicht mit den Ergebnissen der Wahllokale verglichen werden. Es ist also kein Wunder, dass viele den Ergebnissen keinen Glauben schenken.

Verrat der Bolivarischen Revolution

Natürlich weisen wir die widerliche Heuchelei der internationalen Rechten zurück. Die spanische Volkspartei, der argentinische Präsident Milei, Donald Trump, der peruanische Premierminister (der sein Amt einem Staatsstreich verdankt!), Vicente Fox, Bukele und andere groteske Gestalten schreien jetzt: „Betrug!“. Diese Leute haben Putsche in Venezuela offen unterstützt oder direkt organisiert, das Massaker an der Bevölkerung im chilenischen Aufstand bejubelt, die Putschregierung in Peru anerkannt, u.v.m.. Wir haben nichts mit ihnen gemein. Sie sind unsere Klassenfeinde und wir bekämpfen sie, damit werden wir auch jetzt nicht aufhören.

Doch all das erklärt nicht, warum die Arbeiterklasse und die Armenviertel den Aufstand gegen Maduro proben. Das liegt vor allem an der inneren Dynamik Venezuelas. Die Verantwortung dafür liegt bei Maduro und der Führung seiner Partei (PSUV), die die Bolivarische Revolution verraten haben.

Seit dem 29. Juli befindet sich Venezuela in einer explosiven und sehr gefährlichen Situation. In einigen ärmeren Gegenden sind Menschen spontan auf die Straße gegangen, um eine Regierung loszuwerden, die sie nicht mehr vertritt. Doch ihr einziger politischer Ausdruck ist Machado, die Repräsentantin der pro-imperialistischen Rechten. Die Arbeiterklasse und die Armen können in keinem Szenario etwas gewinnen.

Sie verlieren, wenn die Regierung der Bosse unter Maduro auf der Grundlage massiver Unterdrückung an der Macht bleibt. Sie verlieren, wenn er gestürzt und durch Machado ersetzt wird.

Die Gefahr besteht darin, dass Teile der Volksmassen ihre politische Hoffnungen in die Opposition setzen. Niemand sollte sich Illusionen hingeben. Wenn Machado an die Macht kommt, wird sie ein brutales Sparprogramm durchsetzen, die letzten Errungenschaften der Revolution demontieren, für Spottpreise privatisieren und alle Überbleibsel kommunaler Selbstverwaltung mit Waffengewalt zerschlagen. Und all dies wird natürlich durch die militärische Unterdrückung der Arbeiter- und Bauernbewegung erzwungen, falls diese es wagen sollte, sich zu widersetzen.

Einige werden sagen: „Unter Maduro ist es genau gleich.“ Nein. Es wäre noch schlimmer. Aber es war die bürgerliche, bürokratische Konterrevolution von Maduro, die direkt zum Aufstieg der offenen Reaktion von Machado geführt hat. Außerdem kann sich Maduro im Moment nur durch offene Repression durch den Staatsapparat an der Macht halten.

Gab es eine Alternative?

Die gab es. Wir haben dies in den letzten zehn Jahren wiederholt erklärt. Die notwendige Alternative wurde von Chávez selbst in seiner berühmten Rede unter dem Motto „Golpe del Timón“ („Das Steuer herumreißen“) vorgeschlagen hat: „den bürgerlichen Staat zu zerschlagen“ und „eine sozialistische Wirtschaft“ aufzubauen. Dies war immer das instinktive Ziel der kämpfenden Arbeiterklasse und der Armen: die Revolution durch die Abschaffung des Kapitalismus zu vollenden.

Das hätte die imperialistische Aggression nicht gestoppt oder die Guarimbas, Putschversuche und gescheiterten Invasionen verhindert. Aber es hätte die Werktätigen an die Macht gebracht, ihre Moral gestärkt und als Beispiel für die Arbeiterklasse und die Bauern des ganzen Kontinents gedient, indem es die reale Möglichkeit einer Ausweitung der sozialistischen Revolution über die Grenzen Venezuelas hinaus auf die Tagesordnung gesetzt hätte.

Fehler der PCV und die Lehren, die wir ziehen müssen

Die Rolle der PCV verdient besondere Erwähnung. Wir haben uns von Anfang an mit den Genossen der Kommunistischen Partei solidarisch gegen die Repressionen der Maduro-Regierung gezeigt. Doch es gehört ebenso zu unserer Pflicht, die Genossen auf die schweren Fehler hinzuweisen, die sie unserer Meinung nach gemacht haben.

Erstens haben sie das 2020 gegründete Bündnis APR (dt. Revolutionäre Volksalternative; an dem auch unsere Genossen beteiligt waren) als reines Wahlinstrument behandelt, anstatt – wie vereinbart – als Kampffront aufzubauen. Der Beschluss, einen Gründungskongress einzuberufen, wurde nie umgesetzt. In dieser Frage liegt die Verantwortung nicht allein bei der PCV. Doch da sie die stärkste Organisation der APR waren, tragen sie die Hauptverantwortung.

Wir glauben allerdings, dass der Fehler der PCV, bei den Wahlen einen Kandidaten der Bosse, Enrique Marquez von der Partei Centrados, zu unterstützen, noch schwerer wiegt. Sie verteidigten diesen Kandidaten, der an Putschversuchen beteiligt war, mit dem Argument einer „Einheitsfront für die Demokratisierung“ und der Notwendigkeit, „die Institutionen und die Verfassung wiederzubeleben“. Aktuell rufen sie dazu auf, „Räume der breiten Einheit zu schaffen, um den Kampf für die Rettung der Verfassung und der Rechtsstaatlichkeit Venezuelas zu stärken“, was als Aufruf zur Aktionseinheit mit Machado verstanden werden könnte!

Diese Fehler der Linken haben dazu geführt, dass die Arbeiterklasse einer eigenen Führung völlig beraubt wurde und jetzt der Bourgeoisie ausgeliefert ist.

Was nun? In jedem Fall ist es entscheidend, dass wir die Notwendigkeit einer politisch unabhängigen Organisation der Arbeiterklasse erklären. Wer auch immer regiert, die Interessen unserer Klasse müssen verteidigt werden.

Darüber hinaus ist es notwendig, eine ernsthafte Bilanz der Bolivarischen Revolution, ihrer Errungenschaften, aber vor allem ihrer Beschränkungen zu ziehen. Wer eine halbe Revolution macht, schaufelt sich sein eigenes Grab. Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, damit wir sie nicht wiederholen.