Tektonische Verschiebungen in den internationalen Beziehungen Share TweetDie Weltlage ist von enormer Instabilität geprägt. Dies ist das Ergebnis des Hegemoniekampfes zwischen den USA – der mächtigsten imperialistischen Nation der Welt, die sich in relativem Niedergang befindet – und schwächeren, aber dennoch aufstrebenden Mächten, vor allem China.[Source]Die Kräfteverhältnisse konkurrierender imperialistischer Mächte wandeln sich. Und wie bei der Bewegung der tektonischen Platten auf der Erdkruste werden solche Bewegungen von Explosionen aller Art begleitet.Lenin erklärte 1916 in seinem Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, dass die Verhältnisse zwischen den Nationen nicht starr sind, sondern das Ergebnis eines dynamischen Kampfes zwischen verschiedenen imperialistischen Mächten. Jetzt erleben wir einen Kampf um die Teilung und Neuverteilung der Welt. Davon zeugen unter anderem der Krieg in der Ukraine und der brodelnde Konflikt im Nahen Osten, der sich zu einem regionalen Krieg auszuweiten droht.Relativer Niedergang des US-ImperialismusWir müssen betonen, dass der Niedergang des US-Imperialismus relativ ist. Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor in jeder Hinsicht die mächtigste – und reaktionärste – Macht der Welt. 1985 machten die USA 34,6 % des weltweiten Bruttoinlandprodukts (BIP) aus. Inzwischen sind es nur noch 26,3 %, aber sie sind trotzdem noch die grösste Volkswirtschaft der Welt. Die USA dominieren die Weltwirtschaft nach wie vor durch ihre Kontrolle über die Finanzmärkte. 58 % der weltweiten Währungsreserven werden in US-Dollar gehalten (nur zwei Prozent in chinesischen Renminbi), obwohl diese Zahl im Vergleich zu 73 % im Jahr 2001 gesunken ist.Die wirtschaftliche Grösse eines Landes verleiht ihm internationale Macht. Diese muss jedoch durch militärische Macht gestützt werden. Die Militärausgaben der USA machen 40 % der weltweiten Militärausgaben aus, China liegt mit 12 % an zweiter und Russland mit 4,5 % an dritter Stelle.Dennoch hat die Dominanz der USA ihre Grenzen erreicht. Ab 2001 hatte sich der US-Imperialismus in kostspieligen und nicht zu gewinnenden Kriegen im Irak und in Afghanistan festgefahren. Im August 2021 war er zu einem demütigenden Rückzug aus Afghanistan gezwungen. Die Weigerung der USA, nach diesen Erfahrungen Bodentruppen einzusetzen, bedeutete, dass sie nicht in der Lage waren, effektiv in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen, sodass Russland zum einflussreichsten Akteur in diesem Konflikt wurde. Ein solches Ergebnis – in einer sehr wichtigen geostrategischen Region wie dem Nahen Osten – wäre zehn Jahre zuvor undenkbar gewesen.Aufstieg ChinasChina ist nicht nur ein kapitalistisches Land, sondern auch ein imperialistisches. Als Spätzünder in der internationalen Arena hat es seine Macht hauptsächlich durch wirtschaftliche Mittel ausgedehnt. Aber es baut auch seine militärische Macht aus. China ist heute eine technologisch fortgeschrittene kapitalistische Wirtschaft, die eine beherrschende Stellung in modernen High-Tech-Sektoren einnimmt und auch Kapital exportiert.Jetzt stösst China an seine eigenen Grenzen und steht vor einer klassischen Krise der kapitalistischen Überproduktion. Gleichzeitig stossen die chinesischen Exporte auf Zollschranken und Protektionismus. Die chinesische Wirtschaft wächst immer noch, aber viel langsamer. Massive Konjunkturpakete haben einen noch stärkeren Rückgang verhindert. Aber deren Effektivität nimmt ab. Mit der gleichen Investitionssumme lässt sich nicht mehr das gleiche Wirtschaftswachstum erzielen. Und was produziert wird, lässt sich auf dem Weltmarkt schwieriger verkaufen.Ein Nebeneffekt davon ist Chinas massive Verschuldung. Seine Schuldenquote betrug im Jahr 2000 nur 23 % und ist auf 83 % im Jahr 2023 gestiegen. Damit liegt China zwar immer noch unter dem Wert der meisten fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften, aber es ist dennoch ein deutlicher Anstieg. Da der chinesische Kapitalismus ein Plateau erreicht hat, wird es sehr schwierig sein, die Wachstumsraten der Vergangenheit wieder zu erreichen.Inzwischen hat sich in China eine riesige Arbeiterklasse herausgebildet, die sich über einen langen Zeitraum hinweg an eine stetige Verbesserung ihres Lebensstandards gewöhnt hat. Diese Arbeiterklasse ist jung und frisch, unbelastet von Niederlagen und nicht an reformistische Organisationen gebunden. Wenn sie sich in Bewegung setzt, wird dies eine Explosion von seismischem Ausmass auslösen.RusslandRussland ist eine viel schwächere imperialistische Macht. Es ist wirtschaftlich viel kleiner als China, hat aber eine mächtige Armee und eine gewaltige Verteidigungsindustrie aufgebaut und verfügt über ein Atomwaffenarsenal, das es von der UdSSR geerbt hat.Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wollte die russische herrschende Klasse als gleichberechtigter Partner auf der Weltbühne akzeptiert werden. Sie brachte sogar die Idee auf, der NATO beizutreten. Dies wurde abgelehnt: Die USA wollten die vollständige und uneingeschränkte Herrschaft über die Welt ausüben und sahen keine Notwendigkeit, ein schwaches und krisengeschütteltes Russland einzubeziehen.Der russische Kapitalismus erholte sich aber von seiner Krise und begann, seine Interessen wieder zu behaupten. Im Jahr 2008 führte Russland einen kurzen und effektiven Krieg in Georgien und zerstörte die Armee des Landes, die von der NATO ausgebildet und ausgerüstet worden war. Das war der erste Warnschuss. Syrien war der nächste. Die russische Invasion in der Ukraine war die logische Konsequenz der Weigerung des Westens, die rote Linie Russlands zu akzeptieren, die in der Forderung nach Neutralität für die Ukraine und einem Stopp der Osterweiterung der NATO zum Ausdruck kam.Der US-Imperialismus dachte, er könnte die Ukraine als Kanonenfutter in einem Feldzug zur Schwächung Russlands und zur Lähmung dessen Rolle in der Welt einsetzen. Washington wollte auch China in Bezug auf Taiwan eine klare Botschaft senden.Heute stehen die USA vor einer Niederlage in der Ukraine. Die Sanktionen haben nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Russland wurde nicht isoliert, sondern hat engere Wirtschaftsbeziehungen zu China aufgebaut. Und mehrere Länder, die eigentlich im Einflussbereich der USA liegen sollten – Indien, Saudi-Arabien, die Türkei –, haben dazu beigetragen, die Sanktionen zu umgehen. China und Russland sind nun viel engere Verbündete in ihrem Widerstand gegen die Vorherrschaft der USA in der Welt. Die NATO-Niederlage in der Ukraine wird enorme und dauerhafte Folgen für die Weltbeziehungen haben und die Vorherrschaft des US-Imperialismus weiter zurückdrängen.Der Nahe OstenDer Angriff vom 7. Oktober war ein schwerer Schlag für die herrschende Klasse Israels. Er zerstörte den Mythos der Unbesiegbarkeit des zionistischen Staates und stellte seine Fähigkeit in Frage, seine jüdischen Bürger zu schützen – die Schlüsselfrage, mit der die herrschende Klasse Israels die Bevölkerung hinter sich versammelt hatte.Der Angriff wurde von Netanjahu – der unmittelbar zuvor mit Massenprotesten konfrontiert war – als Vorwand genutzt, um eine genozidale Kampagne gegen Gaza zu starten. Ein Jahr später hat Israel seine Kriegsziele verfehlt und weder die Geiseln militärisch befreit noch die Hamas vernichtet. Das führte zu erneuten Protesten gegen Netanjahu. Daraufhin eskalierte der Premier die Situation mit der Invasion des Libanon. Um sich politisch zu retten, hat Netanjahu wiederholt gezeigt, dass er bereit wäre, einen regionalen Krieg vom Zaun zu brechen, der die USA zwingen würde, direkt an seiner Seite zu intervenieren.Dass die engstirnigen persönlichen Interessen eines Mannes einen so unglaublichen Einfluss auf die Ereignisse haben können, spiegelt die enorme Instabilität der gesamten Weltlage wider.Der plötzliche und unerwartete Zusammenbruch des Assad-Regimes in Syrien hat das regionale Kräfteverhältnis erneut verändert. Die Türkei ist eine kleine kapitalistische Macht in der Weltwirtschaft, aber sie hat grosse regionale Ambitionen. Erdoğan nutzte den Konflikt zwischen dem US-Imperialismus und Russland sehr geschickt zu seinem eigenen Vorteil. Da der Iran und Russland anderweitig beschäftigt waren (Russland in der Ukraine und der Iran im Libanon), versuchte Erdoğan, Assad zu drängen, ihm einen grösseren Teil des syrischen Kuchens zu überlassen. Als Assad sich weigerte, beschloss Erdoğan, die Offensive der HTS-Dschihadisten aus Idlib zu unterstützen. Der Sturz Assads ist ein Schlag für das Ansehen und den Ruf Russlands als kleine Weltmacht und des Iran als Regionalmacht.Netanjahu, ermutigt durch die Schwächung des Iran und die Schläge gegen die Hisbollah im Libanon, wird nun versuchen, die Interessen Israels gegenüber der Hamas, aber auch im Westjordanland, auf den Golanhöhen und sogar weiter in Syrien durchzusetzen.Es kann im Nahen Osten keinen Frieden geben, solange die palästinensische nationale Frage nicht gelöst ist. Dies ist im Kapitalismus nicht möglich. Die Interessen der zionistischen herrschenden Klasse in Israel – unterstützt von der mächtigsten imperialistischen Macht der Welt – lassen die Bildung eines echten Heimatlandes für die Palästinenser nicht zu und noch weniger das Rückkehrrecht von Millionen von Flüchtlingen.Der Staat Israel und seine zionistische herrschende Klasse können nur besiegt werden, indem die Bevölkerung des Landes entlang der Klassenlinien gespalten wird. Nur eine sozialistische Föderation kann die nationale Frage ein für alle Mal lösen. Alle Völker, Palästinenser und israelische Juden, aber auch Kurden und alle anderen, hätten das Recht, in einer solchen sozialistischen Föderation in Frieden zu leben.Das wirtschaftliche Potenzial der Region würde in einem gemeinsamen sozialistischen Produktionsplan voll ausgeschöpft werden. Arbeitslosigkeit und Armut würden der Vergangenheit angehören. Allein auf dieser Grundlage könnten die alten nationalen und religiösen Hassgefühle überwunden werden.Krise in EuropaWährend die USA weltweit einen relativen Rückgang ihrer Stärke und ihres Einflusses hinnehmen mussten, sind die alten europäischen imperialistischen Mächte – Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und andere – seit ihren glorreichen Tagen noch weiter abgestiegen und zu zweitklassigen Mächten geworden.Europa als imperialistischer Block hat im letzten Jahrzehnt besonders an Stärke verloren. Eine Reihe von Militärputschen hat Frankreich aus Zentralafrika und der Sahelzone verdrängt, wovon Russland profitiert. Die europäischen Mächte folgten dem US-Imperialismus in seinem Stellvertreterkrieg in der Ukraine gegen Russland – etwas, das direkt gegen ihre eigenen Interessen ging.Seit dem Zusammenbruch des Stalinismus 1989-91 hatte Deutschland eine Politik der Ausweitung seines Einflusses nach Osten verfolgt, wobei es enge wirtschaftliche Beziehungen zu Russland aufgebaut hatte. Die deutsche Industrie hatte von billiger russischer Energie profitiert: Vor dem Ukraine-Krieg stammten mehr als die Hälfte des deutschen Erdgases, ein Drittel des gesamten Öls und die Hälfte der deutschen Kohleimporte aus Russland. Wegen der Sanktionen muss Europa viel teureres Flüssigerdgas (LNG) aus den USA importieren. Tatsächlich stammt ein grosser Teil des deutschen Gases immer noch aus Russland, nur dass es jetzt über Drittländer (z. B. Indien) zu einem viel höheren Preis bezogen wird. Die Vereinigten Staaten haben sich bei ihren europäischen Verbündeten mit einem Handelskrieg revanchiert, mit einer Reihe protektionistischer Massnahmen und Industriesubventionen.Die EU ist ein Versuch der geschwächten imperialistischen Mächte des Kontinents, sich zusammenzuschliessen, in der Hoffnung, mehr Einfluss auf die Weltpolitik und die Wirtschaft zu gewinnen. In der Praxis dominierte das deutsche Kapital die anderen schwächeren Volkswirtschaften. Die verschiedenen nationalen herrschenden Klassen, aus denen die EU sich zusammensetzt, blieben jedoch bestehen, jede mit ihren eigenen besonderen Interessen. Trotz allem Gerede über die europäische Einheit gibt es keine gemeinsame Wirtschaftspolitik, keine einheitliche Aussenpolitik und keine einzige Armee, die sie umsetzen könnte.Die Staatsschuldenkrise, die auf die Weltwirtschaftskrise 2008/2009 folgte, brachte die EU an ihre Grenzen. Seitdem hat sich die Situation noch weiter verschlechtert. Die Krise des europäischen Kapitalismus hat bedeutende politische und soziale Auswirkungen. Der Aufstieg rechtspopulistischer, euroskeptischer und gegen das Establishment gerichteter Kräfte auf dem gesamten Kontinent ist eine direkte Folge davon. Der jüngste Zusammenbruch der französischen und deutschen Regierungen ist Ausdruck dieser Krise.Die europäische Arbeiterklasse, deren Kräfte weitgehend intakt und unbesiegt sind, wird eine neue Runde von Sparmassnahmen und Massenentlassungen nicht kampflos hinnehmen. Die Voraussetzungen für eine Explosion des Klassenkampfes sind gegeben.Wettrüsten und MilitarismusHistorisch gesehen wurde jede bedeutende Veränderung der relativen Stärke verschiedener imperialistischer Mächte letztendlich durch Krieg beigelegt, vor allem durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Heute macht die Existenz von Atomwaffen einen direkten Weltkrieg in der nächsten Zeit sehr unwahrscheinlich. Kapitalisten führen Kriege, um Märkte, Investitionsfelder und Einflussbereiche zu sichern. Ein Weltkrieg würde heute zur vollständigen Zerstörung der Infrastruktur und des Lebens führen, wovon keine Macht profitieren würde.Dennoch beherrscht der Konflikt zwischen imperialistischen Mächten – der den Kampf um eine neue Aufteilung des Planeten widerspiegelt – die Weltlage. Dies äussert sich in mehreren regionalen Kriegen und Stellvertreterkriegen, die massive Zerstörung und den Tod von Zehntausenden Menschen verursachen, sowie in immer stärkeren Handels- und diplomatischen Spannungen. Im vergangenen Jahr gab es die höchste Anzahl an Kriegen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.Dies hat zu einem neuen Wettrüsten geführt. Die weltweiten Militärausgaben beliefen sich 2023 auf über 2,44 Billionen US-Dollar, was einem Anstieg von 6,8 % gegenüber 2022 entspricht. Dies war der grösste Anstieg seit 2009 und der höchste jemals verzeichnete Wert.Der Kampf gegen Militarismus und Imperialismus ist zu einer zentralen Frage unserer Epoche geworden. Der einzige Weg, um Frieden zu garantieren, ist die Zerschlagung des kapitalistischen Systems, das die Ursache all dieser Kriege ist.Umkehrung der Globalisierung«Globalisierung» – die Ausweitung des Welthandels – war eine Zeit lang nach dem Zusammenbruch des Stalinismus in Russland und der Restauration des Kapitalismus in China einer der Hauptmotoren des Wirtschaftswachstums. Stattdessen haben wir jetzt Zollschranken und Handelskriege zwischen allen grossen Wirtschaftsblöcken (China, der EU und den USA), die jeweils versuchen, ihre eigene Wirtschaft auf Kosten der anderen zu retten.1991 machte der Welthandel 35 % des weltweiten BIP aus. Dann begann eine Phase des schnellen Wachstums, die 2008 mit einem Spitzenwert von 61 % ihren Höhepunkt erreichte und eine stark zunehmende Integration der Weltwirtschaft widerspiegelte.Seit der Krise von 2008 stagniert der Welthandel als Prozentsatz des weltweiten BIP. Im Jahr 2023 führten Regierungen weltweit 2’500 protektionistische Massnahmen (Steueranreize, gezielte Subventionen und Handelsbeschränkungen) ein – dreimal so viele wie fünf Jahre zuvor. Die US-Zölle auf chinesische Waren haben sich auf 19,3 % versechsfacht. Wir sollten nicht vergessen: Es war eine allgemeine Hinwendung zum Protektionismus, die die Welt in den 1930er Jahren von einer wirtschaftlichen Rezession in eine Depression stürzte.Revolutionärer AuswegWas auch immer Trumps Absichten sein mögen, jeder echte Rückzug Washingtons von der Weltbühne wäre ein Sieg für seine Rivalen. Die Vorherrschaft des Imperialismus kann nur durch den revolutionären Sturz des Kapitalismus und die Machtübernahme der Arbeiterklasse überwunden werden.Nur dann wäre es möglich, eine wirklich gerechte Gesellschaft zu schaffen, in der die Produktionsmittel, die die Menschheit im Laufe von Tausenden von Jahren geschaffen hat, in gemeinschaftlichem Besitz wären und im Rahmen eines demokratischen Produktionsplans genutzt würden, um die Bedürfnisse der Mehrheit zu befriedigen – und nicht den unstillbaren Profitdurst einer parasitären Minderheit.