Südkorea: Zwischen Squid Game und Klassenkampf Share TweetSüdkorea, das „Leuchtfeuer“ des Kapitalismus gegen den „grausamen“ Bruder im Norden, ist zurzeit gleich zweifach Schlagzeile des Tages. Zum einen, durch die äußerst erfolgreiche Netflix Serie „Squid Game“, zum anderen durch den massiven Arbeiterstreik am 20. Oktober. Doch während die bürgerlichen Medien den Netflix Erfolgshit feiern, bleibt die Berichtserstattung über die Proteste in Südkorea äußerst eingeschränkt.[Source]Zwar stellt die Serie „Squid Game“ die dystopische Seite des Kapitalismus in Südkorea und anderswo zum Teil gut dar, doch sollte das Hauptaugenmerk auf den Protesten in Südkorea liegen. Denn während in der Serie die Teilnehmer durch ihre Verschuldung und Armut gezwungen werden, an brutalen und tödlichen Spielen teilzunehmen, um am Ende das Preisgeld und damit eine Chance auf ein besseres Leben zu bekommen, haben die klassenbewussten Arbeiter in Südkorea beschlossen ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und dem kapitalistischen Regime den Kampf erklärt.Radikalisierung der ArbeiterbewegungAm 20. Oktober folgten über 80.000 Mitglieder des Koreanischen Gewerkschaftsbundes (KCTU) dem Aufruf der Gewerkschaftsführung, in 14 Regionen Südkoreas auf die Straße zu gehen. Weitere 50.000 Beschäftigte legten um 14 Uhr ihre Arbeit nieder. An dem Streik beteiligten sich Arbeiter aus allen Branchen, die unter dem Dach des KTCU organisiert sind.Metallarbeiter, Bauarbeiter, nicht regulär Beschäftigte in Schulen zusammen mit Arbeitern aus dem Dienstleistungssektor, dem Gesundheitswesen und anderen Bereichen standen an ihren Arbeitsplätzen und auf den Straßen Schulter an Schulter.Um die tiefe Wut der südkoreanischen Arbeiter auf das gesamte kapitalistische Establishment und alle politischen Parteien zu demonstrieren, rief der KCTU zu diesem landesweiten Streik auf. Während der Umgang der südkoreanischen Regierung mit der Pandemie international gelobt wurde, schuften die Beschäftigten weiterhin unter entsetzlichen Bedingungen.Die aufgestaute Frustration unter den organisierten Arbeitern hat zu einer Radikalisierung der KCTU von unten geführt. Im Dezember 2020 wählten die KCTU-Mitglieder den vorherigen Präsidenten ab, der versucht hatte, mit der Regierung und den Kapitalisten zu kollaborieren, und ersetzten ihn durch Yang Kyung-soo. Dieser versprach, für die Interessen der Arbeiter zu kämpfen und einen Generalstreik vorzubereiten. Yang ist der erste KCTU-Vorsitzende, der auch Zeitarbeiter ist, einer von über 41 Prozent der koreanischen Arbeiter, die in Gelegenheitsjobs arbeiten. Viele sehen Yang als Vertreter einer jüngeren, radikaleren Generation von Arbeitern.Seit er die Führung übernommen hat, hat Yang eine militantere Haltung gegenüber dem Staat eingenommen, indem er Arbeiterproteste und Kundgebungen organisierte gegen die willkürlichen, ständig wechselnden und höchst undemokratischen Einschränkungen öffentlicher Versammlungen im Namen der Kontrolle der Pandemie. Der Staat reagierte daraufhin mit direkter Repression. Am 2. September dieses Jahres führte der Staat eine Razzia in der KCTU-Zentrale durch und verhaftete Yang wegen Verstoßes gegen das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz und das Gesetz zur Bekämpfung und Verhütung von Infektionskrankheiten sowie wegen Störung des Straßenverkehrs.Als Antwort darauf, rief die übrige Gewerkschaftsführung am 20. Oktober zum Generalstreik auf. Kurz gesagt, der Generalstreik spiegelt die zunehmend direkte Konfrontation zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse wider.MobilisierungFür den Streik mobilisierte der KCTU über ihre 14 Zentralen im ganzen Land. Die Mitglieder wurden aufgefordert, ihre Arbeit ab 14 Uhr niederzulegen. Diejenigen, die in der Nähe von Seoul arbeiten, z.B. in Incheon oder in der Provinz Gyeonggi, wurden aufgefordert, sich in der Hauptstadt zu versammeln, um eine große Machtdemonstration zu veranstalten. Am Ende nahmen schätzungsweise 80.000 Arbeiter aus dem ganzen Land an den Kundgebungen teil.In kleineren Städten gingen die Teilnehmerzahlen in die Tausende. In Gwangju, dem Schauplatz des Gwangju-Aufstandes von 1980, versammelten sich 3.000 Menschen vor dem Rathaus. In Choenan, einem Verkehrsknotenpunkt, protestierten 2.000 Arbeiter. In Daegu, der drittgrößten Stadt des Landes, schlossen sich 5.000 Menschen der Kundgebung an, während in Busan, der zweitgrößten Stadt, schätzungsweise 10.000 Menschen an dem Streik teilnahmen.Der Schwerpunkt des Generalstreiks lag jedoch eindeutig in Seoul. Mehr als 27.000 Arbeiter versammelten sich auf der belebten Innenstadtkreuzung vor der U-Bahn-Station Seodaemun. Um der Polizei keinen Vorsprung zu verschaffen ihre Absperrungen aufzubauen, gab die Gewerkschaft den eigentlichen Versammlungsort erst einige Stunden vor der Versammlungszeit bekannt. Dass sich dennoch Zehntausende von Arbeitern so kurzfristig mobilisieren ließen, zeugt von der Begeisterung und Kampfbereitschaft der teilnehmenden Arbeiter.Der Generalstreik hat zwar eine spürbare Schockwelle in der koreanischen Gesellschaft ausgelöst, doch der KCTU verfügt über ein weitaus größeres Mobilisierungspotenzial. Mit über einer Million Mitgliedern ist der KCTU die größte Gewerkschaft in Südkorea. Auch wenn ein landesweiter Streik mit 80.000 Teilnehmern weitaus größer ist als jeder andere Arbeitskampf der letzten Jahre in Ostasien, so stellt er doch nur einen kleinen Bruchteil des tatsächlichen Potenzials dar, das der KCTU aufbringen kann.Hartes Durchgreifen und pathetische WorteAngesichts dieser Streikkundgebungen, zu denen sich Tausende versammelten, bemühte sich die südkoreanische Polizei, die demokratischen Rechte der Arbeiter zu beschneiden, indem sie vorgab die Covid-19-Vorschriften durchzusetzen.In Seoul waren schätzungsweise 16.000 Polizisten im Einsatz, um die KCTU-Kundgebung zu verhindern. Da sie nicht wusste, wo die Kundgebung stattfinden würde, konnte die Polizei nur auf Vermutungen aufbauen. Etwa 500 Polizeibusse wurden eingesetzt, um in der Nord-Süd-Strecke vom Plaza Hotel vor dem Seoul Plaza bis zum Gwanghwamun-Platz und in der Ost-West-Strecke von Seorin-dong bis zum Heilsarmeezentrum kreuzförmige Mauern von Einsatzwägen zu errichten. Die Polizei errichtete auch eine Automauer um den Gwanghwamun-Platz und setzte dort 170 Einheiten ein, obwohl dieser Platz ziemlich weit vom eigentlichen Ort der Kundgebung entfernt ist.In Busan setzte die Polizei fünf Hundertschaften am Hauptstandort ein. Ein Polizeibeamter sagte: „In Busan sind Kundgebungen mit mehr als 50 Personen in der dritten Stufe der sozialen Distanzierung verboten“, und fügte hinzu: „Wir werden mit aller Härte gegen illegale Aktivitäten vorgehen, indem wir Methoden zur Verhinderung von Infektionskrankheiten einsetzen.“Die Regierung, momentan unter der „fortschrittlichen“ Administration von Präsident Moon Jae-in und der Demokratischen Partei Koreas (DPK), hat versucht, diesen Generalstreik als irrationalen Akt darzustellen und nicht als gerechtfertigte Aktion der Arbeiter zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen. Absurderweise hat der Minister für Inneres und Sicherheit, Jeon Hae-cheol, sogar versucht, die Gewerkschaft als ein Hindernis für die Beendigung der Pandemie darzustellen:„Der landesweite Streikplan der KCTU könnte die Virussituation bedrohen, die sich in letzter Zeit nach der Notlage verbessert hat, und die Erwartungen auf eine Rückkehr zur Normalität an diesem sehr wichtigen Wendepunkt zerstören.“Man muss sich fragen: Wer hat die Bedingungen zu verantworten, die die Arbeiter während der Pandemie zu Massenprotesten gezwungen haben? Auf welche Art von „Normalität“ können sich die koreanischen Arbeiter freuen, wenn sie zurückkehren? Warum sollte irgendjemand zu den langen Arbeitszeiten, den niedrigen Löhnen und dem schrecklichen privatisierten Wohnungswesen und der Gesundheitsversorgung zurückkehren wollen, die Südkorea seit Jahren kennzeichnen?Doch leere Worte allein sind nicht alles, was der südkoreanische Staat für die Arbeiter bereithält. Die Polizeibehörde der Stadt Seoul hat Ermittlungen gegen die Organisatoren und die Hauptteilnehmer der Kundgebung eingeleitet. Der südkoreanische Staat hat eine lange Geschichte der gnadenlosen Unterdrückung kämpferischer Arbeiter. Der KCTU muss sich darauf einstellen und bereit sein, zurückzuschlagen.KlassenunabhängigkeitDie Gewerkschaft hatte zu der landesweiten Mobilisierung aufgerufen, um die Kraft und den Zorn der koreanischen Arbeiterklasse gegen die brutalen Realitäten des südkoreanischen Kapitalismus zu demonstrieren. Die wichtigsten Slogans lauten: „Zerschlagt die Ungleichheit!“ (불평등 타파) und „Ungleichheit raus!“ (불평등 OUT). Die KCTU-Führung stellte außerdem 15 Forderungen auf, die im Allgemeinen auf das Erreichen der folgenden drei Ziele abzielen: Abschaffung der „irregulären Arbeit“ (Teilzeit-, Zeit- oder Vertragsarbeit mit geringen oder keinen Soziallversicherungen) und Ausweitung des Arbeitsschutzes auf alle Arbeiter; Mitsprache der Arbeiter bei wirtschaftlichen Umstrukturierungsentscheidungen in Krisenzeiten; Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und Vergesellschaftung grundlegender Dienstleistungen wie Bildung und Wohnen. Als Marxisten unterstützen wir voll und ganz diese Reformen, die von den koreanischen Arbeitern dringend benötigt werden. Auf der anderen Seite hat die gesamte herrschende Klasse gezeigt, dass sie kein Interesse an der Durchführung dieser Maßnahmen hat. Ob es sich um die regierende liberale DPK, die konservative People Power Party (PPP) oder eine der kleineren Oppositionsparteien handelt, sie alle sind fest in den Interessen der Bourgeoisie in Südkorea verwurzelt, die das System so erhalten will, wie es ist. Auf keine von ihnen ist Verlass, und sie können nicht einmal dazu gedrängt werden, eine Politik zugunsten der Arbeiter zu betreiben, es sei denn, ihre politische Macht wird herausgefordert.Für den KCTU bedeutet dies, dass, während er mit diesem Generalstreik als Zeichen der Stärke und des Klassenzorns den ersten richtigen Schritt getan hat, er durch seine Wurzeln in der Gewerkschaftsbewegung aktiv eine politische Partei aufbauen muss. So eine Partei sollte nicht nur versuchen, das bestehende kapitalistische System in Südkorea zu reformieren, sondern sie sollte darauf abzielen, es zu stürzen und durch eine Arbeiterregierung zu ersetzen, damit ein sozialistisches Programm umgesetzt werden kann. Nur so können die südkoreanischen Arbeiter und Jugendlichen der Gesellschaft entkommen, die ihr Leben täglich in ein endloses „Squid Game“ verwandelt.