Assad ist gestürzt – Islamisten übernehmen Syrien

Das syrische Regime ist in sich zusammengebrochen. Bashar al-Assad ist aus dem Land geflohen. Seine Armee hat ihre Waffen niedergelegt und die Regierung hat kapituliert. Die Gefängnisse wurden gestürmt und Tausende wurden befreit. Währenddessen strömten tausende Syrer auf die Straßen, um dies zu feiern. Von Hamid Alizadeh (08.12.24).

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Das Machtvakuum wird von lokalen Gruppen und Warlords gefüllt, die verschiedene Gebiete im ganzen Land unter ihre Gewalt gebracht haben. Drusische Milizen haben Suweida und benachbarte Orte übernommen. Von den USA unterstützte Gruppen in Al-Tanf rücken ins Landesinnere vor und iranische Milizen sind laut Berichten auf dem Rückzug aus Deir ez-Zor, wo sie kurdischen SDF-Kämpfern die Macht übergeben haben. Russische Streitkräfte haben sich währenddessen gemeinsam mit den Überbleibseln von Assads Kräften in die westlichen Küstengebiete zurückgezogen.

Obwohl jetzt von einer breit aufgestellten Übergangsregierung geredet wird, ist heute zweifellos die islamistische Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) die stärkste Kraft in Syrien. Was als scheinbar begrenzte Militäraktion dieser Gruppierung in der Region um Aleppo begonnen hat, führte rasch zum Zusammenbruch der syrischen Armee und des ganzen Staates. Für sie selbst – und für ihre Unterstützer in Ankara – kam überraschend, wie leicht sich der islamistische Ansturm einen Weg durch Syrien bahnen konnte.

Momentan kochen die Emotionen im Nahen Osten hoch. Viele bejubeln den Sturz von Assad, während andere über die Rückkehr islamistischer Reaktionäre verzweifeln und noch mehr Instabilität in der Zukunft befürchten. Unsere Aufgabe als Kommunisten ist es, um es mit Spinoza zu sagen: weder lachen noch weinen, sondern verstehen.

Die Islamisten haben 14 Jahre erfolglos gegen das Regime gekämpft, bevor sie es jetzt in nur zehn Tagen überrannt haben. Keiner hat das erwartet. Wir brauchen eine Erklärung. Welche Kräfte stecken hinter dem Auseinanderbrechen Syriens?

Noch einmal zu den syrischen „Rebellen“

Es fällt schwer, den Ekel zu unterdrücken, wenn man liest, was die westliche Presse über Syrien schreibt. Dieselben Medien, die regelmäßig die „Barbarei“ von Gruppen wie der Hamas oder der Hisbollah anprangern und das blutrünstige israelische Regime stolz als „einzige Demokratie im Nahen Osten“ preisen, finden für die HTS und ihre Verbündeten immer noch die schönsten und sogar inspirierendsten Worte und nennen sie „Rebellen“.

Diese „Rebellen“ wurden vom Westen in der Vergangenheit bereits als „gemäßigte Rebellen“ bezeichnet. Wir haben uns oft gefragt: „Gemäßigt verglichen womit?“ Diese Frage wurde uns nie beantwortet. Gemeint war wohl, dass diese islamistischen Dschihadistengruppen wohl „gemäßigter“ waren, als die Fanatiker des Islamischen Staats, die den Irak und Syrien zwischen 2014 und 2019 verwüstet haben.

In Wahrheit, gehen die Ursprünge der HTS auf denselben Islamischen Staat (IS) und das internationale islamistische al-Qaida Netzwerk zurück. Die Unterschiede zum IS sind rein taktischer Natur. In den prinzipiellen Fragen teilen sie dieselbe reaktionäre Ideologie. Während dem 8-jährige Bürgerkrieg, der 2012 begann, sind sie dem Sumpf islamistischer Gruppierungen entsprungen, die von den USA, der Türkei, Saudi-Arabien und weiteren Golfstaaten finanziert wurden.

Durch die Zerschlagung jeder ernsthaften Opposition im islamistischen Lager gelangten die Gruppe und ihr Anführer Abu Mohammad al-Jolani in der nordwestlichen Provinz Idlib an die Macht, wo die Bewegung durch die Assad-Kräfte und ihre Verbündeten isoliert war. Hier überlebte sie nur dank des militärischen Schutzes und der wirtschaftlichen Unterstützung der Türkei.

Nachdem der Krieg Israels im Gazastreifen und im Libanon einen großen Teil der Ressourcen des Irans und der Hisbollah beansprucht und der Krieg in der Ukraine die Aufmerksamkeit Russlands auf sich zog, sahen die Islamisten offensichtlich ihre Chance weitere Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. Der türkische Präsident Erdogan sah darin eine weitere Chance, seinen Einfluss auf Syrien zu vergrößern, worauf er schon lange abzielte.

Erdogan hatte schon immer Ambitionen, Syrien und den Nordirak zu beherrschen, um ein neues osmanisches Reich entstehen zu lassen. Er steht auch den kurdischen, mit der PKK verbundenen Kräften feindlich gegenüber, die den Nordosten Syriens mit Unterstützung der USA und der Mithilfe des Assad-Regimes kontrollieren. Gleichzeitig ist er mit einer Wirtschaftskrise im eigenen Land konfrontiert und will Millionen syrischer Flüchtlinge zurückschicken, die das Assad-Regime nicht aufnehmen wollte. Da er die Russen und Iraner anderweitig abgelenkt sah, gab er der HTS grünes Licht.

Es steht jedoch außer Zweifel, dass auch die CIA und der Mossad von den Vorbereitungen für die Offensive gewusst und sie stillschweigend oder aktiv unterstützt haben dürften. „Niemand weiß, ob der Iran und das Regime ohne die jüngsten israelischen Angriffe in Syrien geschwächt worden wären und es uns ermöglichte, zurückzukehren und das Land zu befreien“, sagte ein HTS-Informant gegenüber israelischen Medien. Ohne den unerbittlichen militärischen und wirtschaftlichen Krieg gegen den Iran und seine Verbündeten in der Region wären keine der Ereignisse der letzten zwei Wochen eingetreten.

Imperialistische Intervention

Die Islamisten kaperten die sich entfaltende syrische Revolution 2011, was das Regime anfangs rettete. Angesichts des Terrors des islamischen Fundamentalismus sammelten sich die Syrer hinter Assad. Dieser wurde von Milizen, die mit dem Iran verbündet waren und durch die russische Luftwaffe gestützt. Jetzt rufen dieselben dschihadistischen Kräfte Gleichgültigkeit hervor oder werden sogar von großen Teilen der Bevölkerung begrüßt. Wie kann das sein?

Wie wir schon in früheren Texten erklärten, gehörte Syrien bis vor kurzem zu den fortschrittlichsten Gesellschaften im Nahen Osten. Durch die Abschaffung des Kapitalismus nach einer Reihe eigentümlicher Entwicklungen in den 1970er Jahren erreichte das Land ein hohes Maß an Industrialisierung und Modernisierung sowie ein hohes Maß an Kultur und Wohlstand, das es von den meisten seiner Nachbarn deutlich abgrenzte.

Es war die Einführung der Marktwirtschaft in den 1990er Jahren, die Armut und Arbeitslosigkeit wieder in die Gesellschaft eindringen ließ. Zusammen mit dem externen Impuls der allgemeinen arabischen Revolution war dies letztlich die sozioökonomische Grundlage für die syrische Revolution von 2011.

Die vom Westen angeheizte Aufstandsbewegung der Dschihadisten und der darauffolgende Bürgerkrieg verschlechterte die Lage dramatisch. Mehr als eine halbe Million Menschen wurden getötet, und mehr als die Hälfte der 21 Millionen Menschen, die vor dem Krieg in Syrien lebten, mussten in andere Regionen oder in Nachbarländer fliehen. Eine ganze Generation blieb zerrüttet und hilflos zurück.

In der Folge wurde die Industrie und die lebenswichtige Infrastruktur zerstört. Syrien wurde zerstückelt und unter die Kontrolle verschiedener imperialistischer Mächte gestellt. Das Regime wurde so von den ehemaligen landwirtschaftlichen Flächen und Ölfeldern abgeschnitten. Das syrische BIP schrumpfte zwischen 2010 und 2020 um mehr als die Hälfte. Die Verwerfungen in der Wirtschaft waren verheerend.

Druck der Nachkriegssituation

Der westliche Imperialismus hat den Bürgerkrieg im Großen und Ganzen verloren. Die Dschihadisten wurden in der nordwestlichen Ecke des Landes isoliert und überlebten nur unter dem Schutz des türkischen Imperialismus. Amerika unterhielt einen schwachen Militärstützpunkt in al-Tanf im Süden und übernahm die Schirmherrschaft über die kurdischen Kräfte im Nordosten. Alle großen Städte und Industriegebiete blieben jedoch in Assads Händen.

Der Westen, der Syrien als eine feindliche, vom Iran unterstützte Nation ansah, verhängte jedoch eine Reihe von gnadenlosen Sanktionen gegen das Land, um seinen Wiederaufbau zu verhindern. Die Sanktionen richteten sich nicht nur gegen Waffen, sondern auch gegen Energieimporte, die Entwicklung der Infrastruktur und Finanztransaktionen – Grundpfeiler der Wirtschaft. Im März 2022 war das Land das am dritthäufigsten sanktionierte Regime der Welt.

In der Zwischenzeit reihte sich in Syrien eine Katastrophe an die nächste. Erst in Form der libanesischen Bankenkrise – teilweise aufgrund der US-Sanktionen -, dann der COVID-19-Pandemie, den katastrophalen Dürren und des verheerenden Erdbebens in Aleppo 2023.

Ein Weltbank Report zeichnet ein klares Bild der Lage:

„Die wirtschaftliche Lage Syriens hat sich 2023 weiter verschlechtert. Die Wirtschaftstätigkeit, gemessen an den nächtlichen Lichtemissionen, ging im Jahresvergleich um 1,2% zurück, insbesondere entlang der westlichen Grenzen Syriens, was zum Teil auf eine schwächere Handelstätigkeit zurückzuführen ist. Die Daten zum nächtlichen Abfackeln von Gas zeigen auch einen Rückgang der Ölproduktion um 5,5% im Jahresvergleich, der teilweise auf erdbeben- und konfliktbedingte Infrastrukturschäden zurückzuführen ist. Trotz eines Wiederanstiegs der landwirtschaftlichen Produktion aufgrund besserer Wetterbedingungen im Jahr 2023 (nach dem nahezu historischen Tiefstand im Jahr 2022) hat der Konflikt den Agrarsektor dennoch stark beeinträchtigt, da die massive Vertreibung von Bauern und umfangreiche Schäden an der Infrastruktur und den Bewässerungssystemen zu einem Rückgang der Ernteerträge geführt haben. Die konfliktbedingten Störungen haben auch den Außenhandel stark beeinträchtigt. Der Einbruch der inländischen Industrie- und Agrarproduktion hat die Abhängigkeit Syriens von Importen erhöht. Die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten, die zwar bereits vor 2011 ein Problem war, hat sich durch den Konflikt noch verstärkt. Im Jahr 2023 wurde der syrische Pfund gegenüber dem US-Dollar um 141% abgewertet, während die Verbraucherpreisinflation um schätzungsweise 93% gestiegen ist. Dies wurde durch die Subventionskürzungen der Regierung noch verschärft. Da sich die Wirtschaft verlangsamt, gehen die Steuereinnahmen weiter zurück. Als Reaktion darauf haben die Behörden die Ausgaben weiter gekürzt, insbesondere bei den Investitionsausgaben, und durch eine Fortsetzung der Streichung von Subventionsprogrammen.“

Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine Gesellschaft, in der die Basis für zivilisiertes Leben weitgehend untergraben wurde. Das stolze syrische Volk ist zu einem großen Teil auf ein kümmerliches, mittelloses Dasein reduziert worden. Mehr als die Hälfte von ihnen ist arbeitslos, und mehr als 90% leben unterhalb der Armutsgrenze, d. h. sie müssen mit weniger als 2 Dollar pro Tag auskommen – 2009 war dieser Wert noch verschwindend gering. Laut einer Umfrage aus von 2023 gaben rund 11% der Familien in der Region Aleppo an, dass ihre Kinder arbeiten, vor allem aufgrund des unzureichenden Haushaltseinkommens.

Die Blutspur des Imperialismus zieht sich durchs ganze Land. Er hat das Leben von Millionen von Menschen in Syrien unerträglich gemacht, wie auch anderswo in der Region.

Das Assad Regime und seine Unterstützer

Der syrische Kapitalismus konnte keinen Ausweg aus dieser Sackgasse bieten. Zügellose Korruption und Verfall durchzogen den syrischen Staat, der zu einem leblosen Schatten geworden war. Allein die iranische und russische Militärhilfe konnten ihn am Leben halten. Die Soldaten wurden kaum bezahlt, die Offiziere herrschten mit reiner Willkür und ohne Loyalität gegenüber dem Land oder seiner Armee und die Staatsfunktionäre plünderten ungehindert die Ressourcen. Die Menschen blickten nach einem Jahrzehnt des Bürgerkriegs auf das Geschehene zurück und hatten keinen Grund zum Feiern. Wie mir unsere syrischen Genossen heute sagten: „Die Menschen waren verzweifelt, und niemand war bereit, Assad zu verteidigen.“

Der Sieg der Islamisten hat nichts mit ihrer Stärke zu tun, sondern mit der enormen Fäulnis und Schwäche des Assad-Regimes. Wie ein verrotteter Apfel sackte es beim kleinsten Stoß zusammen.

Dies ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn der Kampf gegen den Imperialismus innerhalb des Rahmens des Kapitalismus bleibt. Die Pläne des US-Imperialismus zur Unterwerfung Syriens wurden vereitelt. Doch die syrische Kapitalistenklasse zeigte sich völlig unfähig, die Probleme des Landes zu lösen. Im Gegenteil, sie fand es profitabler, die Massen auszurauben und zu bestehlen, als die Gesellschaft zu entwickeln und den Lebensstandard zu verbessern. Dieses Versagen ist nicht auf den bösen Willen oder die Unfähigkeit des Regimes zurückzuführen – es liegt in der Natur des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Epoche.

Russland und der Iran, die sich lange Zeit als Antiimperialisten und Verteidiger eines säkularen Syriens dargestellt hatten, zogen sich kampflos zurück. Die russischen Streitkräfte zogen sich an die Küste zurück, um Marinestützpunkte und Militäreinrichtungen zu verteidigen. Die iranischen Milizen zogen sich in den Irak zurück.

Dies offenbart die Beschränkungen Russlands als Weltmacht. Ein Krieg an zwei Fronten, in der Ukraine und in Syrien, übersteigt seine Kräfte. Auch der Iran hat nach einem Jahr des Konflikts mit Israel und dem Westen eindeutig einen Rückschlag erlitten. Angesichts der feindseligen Stimmung gegen die Regierung hätte der Versuch, die Kontrolle über Syrien mit Waffengewalt aufrechtzuerhalten, außerdem riskiert, dass beide Nationen als Besatzungsmächte angesehen worden wären. Sie wären von einem neuen, stärkeren Aufstand überrollt worden.

Am Ende bewahrheitete sich Lord Palmerstons alter Ausspruch: „Nationen haben weder dauerhafte Freunde noch dauerhafte Feinde, sondern nur dauerhafte Interessen.“ Die Interessen des Irans und Russlands in Syrien waren die ihrer jeweiligen kapitalistischen Klassen – nicht die der Massen in Syrien oder gar der Massen des Nahen Ostens im Allgemeinen.

Der Kampf gegen Imperialismus

Nun hat ein zynisches Spiel über die Neuaufteilung Syriens und der ganzen Region begonnen. Israels Kriege mit Hilfe des Westens gegen Gaza und Libanon haben das fragile Gleichgewicht im Nahen Osten, welches erst gerade entstanden war, umgestürzt. Die Entwicklung der Kräfte, die jetzt in Bewegung gesetzt wurden, kann unmöglich vorhergesagt werden.

Die Türkei wurde durch die Ereignisse sicherlich gestärkt, während der Iran und Russland geschwächt wurden. Das wird höchstwahrscheinlich anti-Iranische Kräfte in den bereits enorm instabilen Ländern Irak und Libanon anschieben und ermutigen. Auch in Jordanien, am Persischen Golf und in Ägypten gibt es brennbares Material, das nur auf einen Funken wartet, um es in Brand zu setzen.

Es zeugt von dem extremen Zynismus der Imperialisten, dass sie die Region lieber in die Barbarei ziehen, als ihre Vorherrschaft aufzugeben. Solange diese reaktionären Kräfte nicht ausgemerzt sind, werden sie weiterhin ihr Gift im gesamten Nahen Osten und darüber hinaus verbreiten.

Die Lehre, für die die syrischen Massen in der kommenden Periode teuer bezahlen werden, ist, dass die Massen sich nicht auf ein kapitalistisches Regime verlassen können, um ihre Interessen im Kampf gegen den Imperialismus zu verteidigen. Sie können sich nur auf ihre eigene Kraft und die von Millionen von Arbeitern und Armen in der Region und darüber hinaus verlassen. Sie alle leiden unter der Krise des Kapitalismus, die sich als absolute Sackgasse für die Gesellschaft erwiesen hat.

Der Kampf gegen Armut und Elend, und gegen Rückständigkeit und Imperialismus kann nur erfolgreich sein als Kampf gegen die Klasse der Kapitalisten und ihr System. Die syrische Revolution und die Revolution des Nahen Osten wird triumphieren als sozialistische Revolution, die von den Arbeitern und Bauern selbst angeführt wird, oder sie wird scheitern.

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